Zur See - Dörte Hansen
Beschreibung des Verlages:
Die Fähre braucht vom Festland eine Stunde auf die kleine Nordseeinsel,
manchmal länger, je nach Wellengang. Hier lebt in einem der zwei Dörfer
seit fast 300 Jahren die Familie Sander. Drei Kinder hat Hanne
großgezogen, ihr Mann hat die Familie und die Seefahrt aufgegeben. Nun
hat ihr Ältester sein Kapitänspatent verloren, ist gequält von Ahnungen
und Flutstatistiken und wartet auf den schwersten aller Stürme. Tochter
Eske, die im Seniorenheim Seeleute und Witwen pflegt, fürchtet die
Touristenströme mehr als das Wasser, weil mit ihnen die Inselkultur
längst zur Folklore verkommt. Nur Henrik, der Jüngste, ist mit sich im
Reinen. Er ist der erste Mann in der Familie, den es nie auf ein Schiff
gezogen hat, nur immer an den Strand, wo er Treibgut sammelt. Im Laufe
eines Jahres verändert sich das Leben der Familie Sander von Grund auf,
erst kaum spürbar, dann mit voller Wucht.
Inhalt:
Die Menschen auf der kleinen Nordseeinsel sind rauh und zäh wie die See, von der sie leben. Hanne Sander beherbergte früher Touristen und wartete auf ihren Mann, der auf See war, aber die Familie mittlerweile verlassen hat. Ihre Kinder haben ganz unterschiedliche Lebenswege eingeschlagen: Eske macht sich nichts aus dem Touristenzirkus, arbeitet im Seniorenheim und lässt sich von einer stets auf sie wartenden Frau mit blauen Haaren auf dem Festland neue Tattoos stechen, Henrik ist Künstler geworden und arbeitet mit allem, was das Meer anspült und Ryckmer fuhr zur See, trinkt jetzt aber nur noch und wartet voller Angst auf eine Katastrophe, vor der einen auch die beste Ausrüstung und Vorbereitung nicht bewahren können.
Meine Meinung:
"Alle Inseln ziehen Menschen an, die Wunden haben, Ausschläge auf Haut und Seele. Die nicht mehr richtig atmen können oder nicht mehr glauben, die verlassen wurden oder jemanden verlassen haben. Und die See soll es dann richten, und der Wind soll pusten, bis es nicht mehr wehtut."
Zur See - Dörte Hansen, S. 21
Es gibt Bücher, denen man genau zur richtigen Zeit im Leben begegnet. Bücher die tragen, trösten, unterstützen, beflügeln, inspirieren, begleiten. 2021 während unseres Umzugs mitten in der coronabedingten Lebensverzweiflung war dies "Ein Baum wächst in Brooklyn" von Betty Smith und "Zur See" von Dörte Hansen war dies Ende Oktober, als meine Oma im Sterben lag.
Mit berührenden und einfühlsamen Beschreibungen und Sprachbildern, die nur so vor Kreativität und Können strotzen, baut Hansen diese Geschichte auf, erzählt vom Inselleben und -sterben, den Inselmenschen, Touristen, Seebestattungen, verirrten Walen und Stürmen die immer und immer wieder im Inneren und Äusseren toben und ihren Tribut fordern.
Schreibstil und Aufbau:
"Die ältesten Patienten sterben oft am schwersten. In ihren letzten
Tagen werden sie zu Vogelwesen, schon nicht mehr Mann und nicht mehr
Frau, so dünnhäutig, dass man sie kaum noch zu berühren wagt. Man
glaubt, sie hätten es geschafft, nimmt ihre Hände, wartet auf die
letzten Atemzüge, und dann müssen sie noch einmal in die Schlacht."
Zur See - Dörte Hansen, S. 45
Vor etwa einem Jahr habe ich "Altes Land"
der Autorin gelesen und auch wenn ich vom Erzählstil beeindruckt war, hat mich die Geschichte
damals emotional nicht erreicht. "Zur See" aber zeigt ein sprachliches Können, das mitten ins Herz trifft, eine Familie, in der sich nach und nach Veränderungen einstellen, welche ganze Geschichten neu schreiben. Die heraufbeschworenen Bilder der rauhen See, der Winde, welche über die Insel hinwegfegen und dem Leben der Inselmenschen, die genau so hart und unbarmherzig sind - sein müssen - wie die sie umgebende Natur, haben mich nicht mehr losgelassen.
Und manchmal ist da doch ein weicher Kern, ein wenig Frieden und Liebe und wenn im Auge des Sturms alle ein wenig näher zusammenrücken, kann es doch noch Hoffnung geben.
Meine Empfehlung:
Ich bin so froh, dass ich der Autorin noch einmal eine Chance gegeben und mich auf diese Geschichte eingelassen habe. "Zur See" ist jetzt schon ein Jahreshighlight für mich und ich empfehle euch diese eindringlich erzählte und vor Sprachzauber nur so sprühende Geschichte von ganzem Herzen weiter.
Zusätzliche Infos:
Titel: Zur See
Autorin: Dörte Hansen, geboren 1964 in Husum, arbeitete nach ihrem Studium der
Linguistik als NDR-Redakteurin und Autorin für Hörfunk und Print. Ihr
Debüt „Altes Land” wurde 2015 zum „Lieblingsbuch des unabhängigen
Buchhandels” und zum Jahresbestseller 2015 der SPIEGEL-Bestsellerliste.
Ihr zweiter Roman „Mittagsstunde” erschien 2018, wurde wieder zum
SPIEGEL-Jahresbestseller und mit dem Rheingau Literatur Preis sowie dem
Grimmelshausen Literaturpreis ausgezeichnet. 2022 erschien ihr dritter
Roman „Zur See”. Dörte Hansen, die mit ihrer Familie in Nordfriesland
lebt, ist Mainzer Stadtschreiberin 2022.
Sprache: Deutsch
Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen: 256 Seiten
Verlag: Penguin
Erschienen: 28.09.2022
ISBN: 978-3-328-60222-4