Hilflosigkeit...

In Bern am Bahnhof gibt es immer sehr viele Menschen, die auf eine kleine Spende angewiesen sind, oder zumindest darum beten. Vor allem in der kalten Jahreszeit sieht man von aufdringlichen und alkoholisierten bis hin zu am Boden liegenden und bettelnden Menschen alles. Solche so genannte "Randständige" werden in Zürich verjagd oder zumindest streng gemassregelt, in Bern gehören sie zum Strassenbild genau so dazu, wie bunt gekleidete Umweltaktivisten und solche, die Unterschriften für irgendwelche gemeinnützige Organisationen oder (meist) inhaltslose Initiativen sammeln. Meine Prinzipien bettelnden Menschen gegenüber sind ziemlich klar. Vor allem jungen Menschen gebe ich eigentlich nie Geld. Ich denke, dass das Sozialsystem in der Schweiz sehr gut ist und dass es für einen jungen und ambitionierten Menschen möglich sein sollte, früher oder später von der Strasse weg zu kommen. Und wenn es auch tatsächlich drogenabhängige Jugendliche sind, die den Ausstieg vielleicht nie schaffen, so sollen sie sich wenigstens nicht mit meinem Geld Drogen kaufen. Bei manchen älteren Menschen lasse ich mich manchmal erweichen. Zugegeben; mit ziemlich gemischten Gefühlen... Es ist durchaus möglich, durch alle Maschen eines Systems zu fallen und sich nach etlichen Jahren nicht mehr in die Gesellschaft eingliedern zu können, das verstehe ich voll und ganz. Diese Menschen brauchen dann einfach Geld. Aber auch da sind dann häufig Drogen und Alkohol im Spiel. Wenn jemand aber nach Esswaren fragt, so gebe ich immer sehr gerne, gehe mit und kaufe etwas ein.
Gestern wurde ich am Abend um ca. 20.30 Uhr von einem Mann zwischen 50 und 60 Jahren um etwas Geld für eine Notschlafstelle für ihn und seine Freundin gefragt. Ich hatte einen schönen Tag verbracht, war glücklich und überlegte nicht viel und gab ihm, weil ich gerade nichts Kleineres zur Hand hatte, ein Fünffrankenstück, bei uns in der Schweiz liebevoll "Füfliber" genannt. Der Mann schaute mich mit riesigen Augen an. "E Füfliber?" und steckte das Geldstück ein. Bevor er davon zog, bedankte er sich tausend Mal und schüttelte mir ehrlich dankbar die Hand. Ich fühlte mich nicht gut. Würde er das Geld auch für Drogen ausgeben? Doch war es nicht auch sein Recht, sein Elend und sein Scheissleben im Alkohol zu ertränken?

Heute dann unternahm ich einen tollen Ausflug nach Lausanne. Eine Studienkollegin und ich spazierten stundenlang in der Stadt umgher, gönnten uns ein Käsefondue und guten Kaffee. Wieder in Bern angekommen und von der Freundin verabschiedet, sprach mich ein sehr junges Mädchen an. "Entschuldigung bitte, ich will nicht stören. Entschuldigung, könntest du mir helfen?" Es war ihr sichtlich unangenehm, mich anzusprechen. Ich blieb wohl darum stehen und das war gut so. "Entschuldigung, aber könntest du mitkommen und mir ein Brötchen kaufen?" Natürlich ging ich mit. "Eine Übernachtung ist zwar wichtiger, aber etwas zu Essen stärkt mich. Die Kälte zerrt sehr an meinen Kräften". Ich liess sie auswählen, bat sie, zu nehmen, was sie wollte. "Zu viel kann ich nicht tragen und wenn mich jemand essen sieht, kann ich nicht um Geld für eine Übernachtung bitten." Auf meine beharrliche Nachfrage erfuhr ich, dass sie siebzehn war und nach einer Saisonstelle keine Ausbildung mehr gefunden hatte. Und dass sie unbedingt arbeiten wolle, es ohne Anschrift und Handy aber schwierig sei, sich zu bewerben. Ausserdem erzählte sie mir dann auch, dass sie seit Sommer auf der Strasse lebe und dass sie sich dafür schäme, was man ihr gut ansah. Ich erfuhr, wie teuer, ja teuer, eine Notschlafstelle ist und dass ihr Handy ihr gestohlen worden sei, als sie einmal zu viele klimpernde Münzen in der Tasche hatte und sie deswegen niedergeschlagen worden war und dann auch eine Woche im Spital verbringen musste. Ihrem Wortschatz und dem zurückhaltenden Auftreten entnahm ich, dass sie wohl ziemlich gebildet war. Sie roch weder nach Alkohol, noch wirkte sie - abgesehen von ihren schlechten Zähnen - verwahrlost. "Persönliche Hygiene ist sehr wichtig. Wie soll ich Arbeit oder gar eine Lehrstelle bekommen, wenn ich schmutzig bin? Ich kann in der Lorraine im Unisport duschen. Was mich aber wirklich zum Heulen bringt: Ich bin immer höflich und frage Passanten jeweils, ob sie mit mir mitkommen und mir etwas kaufen. Meistens kommt niemand mit und Geld zum Übernachten bringe ich nicht immer zusammen. Aber es gibt solche, die 300 Franken am Tag zusammen betteln und sich damit betrinken oder anders zudröhnen." Ich dachte an den Mann von gestern und fühlte mich schlecht. Ich kaufte ihr ein Brötchen und ein Risoletto, mehr wollte sie nicht. Ich hatte noch vier Mandarinen dabei und gab ihr eine davon, mehr wollte sie nicht. Ich gab ihr ein Fünffrankenstück für die Notschlafstelle und wusste, dass sie dort hingehen würde, ohne Alkohol, ohne Drogen. Weil ich die Scham und den Willen in ihren Augen gesehen hatte. Weil ich gesehen hatte, wie sie einem Passanten im Laden die Einkäufe, die ihm aus dem Korb gefallen waren, zusammen sammeln geholfen hatte, während ich tatenlos daneben stand. Weil sie sich entschuldigt und um Hilfe gebeten hatte, nicht um Geld. Als sie mir zum Abschied die Hand reichen wollte, umarmte ich sie. "Pass auf dich auf", flüsterte sie, obwohl ich das hätte sagen sollen. Als sie von dannen zog, fiel mir ein, dass ich sie nicht einmal nach ihrem Namen gefragt hatte. Und ich schämte mich ein wenig.

2 Kommentare:

  1. ...
    Ich bin gerührt und geschüttelt. ich weiß nicht was ich sagen soll. hier in bremen gibt es auch viele obdachlose und ich muss sagen, ich habe ein wirklich großes Herz. Es gibt hier einige, an denen KANN ich einfach nicht vorbei gehen ohne ihnen geld oder essen zu geben. Natürlich, weiß ich dass mein Herz manchmal vielleicht zu groß ist, denn als ich deinen Text gelesen habe, habe ich prompt angefangen zu flennen. Ich kann es einfach nicht über mich bringen, an Menschen die auf der Straße leben, aus welchem Grund auch immer, vorbei zu gehen und zu sagen "Geht mich nix an".
    Klar kann es sein, dass sie sich Alkohol und Drogen davon kaufen, aber wenn es das ist was sie brauchen, dann muessen sie das machen. ich bin mir dessen bewusst, wenn ich Geld vergebe.

    Dem Mädchen von dem du geschrieben hast, hätte ich sofort angeboten auf meiner Couch zu pennen und mein verdammtes altes Handy zu nehmen, was eigentlich noch funktioniert und ich einfach so ein neues wollte.. man muss sich mal überlegen wie bescheuert man eigentlich ist. .. Ich hätte ihr glaube ich noch vieles mehr gegeben.. ich bin wirklich einfach ein bisschen weich. Es tut mir so leid um sie, und nun denke ich an sie, während ich hier auf meiner Couch im warmen sitze und sie ist irgendwo da draußen und friert erbärmlich. ich hasse es. Es wird mich jetzt wohl sehr lange beschäftigen, dieses Mädchen..

    Lotta

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    1. Auf der Couch übernachten lassen würde ich wohl niemanden. Dafür bin ich wahrscheinlich viel zu pragmatisch. das Risiko wäre mir einfach zu gross, vor allem, weil ich alleine wohne.
      Ich hätte auch noch ein mehr schlecht als recht funktionierendes Handy irgendwo. Das habe ich aber nie direkt zur Hand.
      Also gab es für mich keine weiteren Möglichkeiten, ihr zu helfen, als ihr etwas zu Essen und eine Übernachtung zu garantieren.

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