Rezension: Das mangelnde Licht

Das mangelnde Licht - Nino Haratischwili

Beschreibung des Verlages:

Nach der lang ersehnten Unabhängigkeit vom ins Taumeln geratenen Riesen stürzt der junge georgische Staat ins Chaos. Zwischen den feuchten Wänden und verwunschenen Holzbalkonen der Tbilisser Altstadt finden Ende der 1980er Jahre vier Mädchen zusammen: die freiheitshungrige Dina, die kluge Außenseiterin Ira, die romantische Nene, Nichte des mächtigsten Kriminellen der Stadt, und die sensible Keto. Die erste große Liebe, die nur im Verborgenen blühen darf, die aufbrandende Gewalt in den Straßen, die Stromausfälle, das ins Land gespülte Heroin und die Gespaltenheit einer jungen Demokratie im Bürgerkrieg – allem trotzt ihre Freundschaft, bis ein unverzeihlicher Verrat und ein tragischer Tod sie schließlich doch auseinandersprengt.
Erst 2019 in Brüssel, anlässlich einer großen Retrospektive mit Fotografien ihrer toten Freundin, kommt es zu einer Wiederbegegnung. Die Bilder zeigen ihre Geschichte, die zugleich die Geschichte ihres Landes ist, eine intime Rückschau, die sie zwingt, den Vorhang über der Vergangenheit zu heben und eine Vergebung scheint möglich.

TW: Suizid, Selbstverletzendes Verhalten, Gewalt, Krieg, Vergewaltigung, Drogen

Inhalt:
Vier Freundinnen, vier Schicksale, vier Familien und vier Lebensentwürfe, welche von Krieg, Armut, Gewalt, Verlusten, aber auch ersten Schwärmereien und Liebschaften und innigen Momenten der Freundschaft geprägt werden. Die Prüfungen schweissen zusammen, entzweien aber auch und die gedanklich in der Vergangenheit lebende Keto, welche im Buch als Chronistin ihrer Schicksale und zeitgleich der Geschichte Georgiens fungiert, hat alle Hände voll zu tun, die vier Freundinnen immer wieder zusammenzubringen.

Meine Meinung:
Gemeinsam mit der lieben Jamie vom Blog Librovore habe ich "Das mangelnde Licht" gelesen und weil wir beide "Das achte Leben (für Brilka)" sehr geliebt haben, waren wir zuversichtlich, dass uns auch dieses Buch von Nino Haratischwili gefallen würde. Und wir sind nicht enttäuscht worden und haben eine grossartige, bewegende Lektüre entdecken dürfen, welche uns einiges abverlangt, uns immer wieder tief berührt und erschüttert hat und uns auch ganz viele traumhaft schöne Szenen der Freundschaft und Liebe haben erleben lassen.
Ich bin froh, dass ich mich mit Jamie über das Gelesene austauschen konnte, so haben wir einzelne Unklarheiten in Bezug auf die historischen Ereignisse und Daten (Haratischwili spart aber auch sehr beim Verwenden von Jahreszahlen) ausmerzen und über die teilweise sehr bewegenden Szenen diskutieren können.
Was ich noch anmerken möchte, was aber nicht in meine Bewertung einfliessen wird: im Buch sind aussergewöhnlich viele Sätze mit fehlenden oder überzähligen Worten (vor allem Vorsilben) anzutreffen. Als wären einzelne Sätze mehrmals umgestellt und dann nicht mehr genau kontrolliert worden. Dies hat Jamie nicht so sehr gestört (obwohl es ihr auch aufgefallen ist), aber ich bin einige Male über solche Sätze gestolpert und habe noch nie so viele Fehler bei einem Buch der Frankfurter Verlagsverstalt bemerkt und möchte dies - vor allem in Hinblick auf die fast 50 Franken, die ich für dieses Buch bezahlt habe - hier doch noch erwähnt haben.

"Auch wir waren Kinder der Zeit, auch wir waren ihr versprochene Bräute. Sie hielt uns fest umklammert, und doch wollten wir ihr an jenem Tag entkommen, wollten sie überlisten und ihr einen Streich spielen, wir fühlten uns unbesiegbar, denn wir waren verliebt, und Verliebte dürfen das Recht für sich beanspruchen, von der Welt unberührt zu bleiben."
S. 485, Das mangelnde Licht - Nino Haratischwili

Aufbau der Handlung:
Mir ist der Einstieg in die Geschichte schwerer gefallen, als erwartet. Obwohl mich die Sprache von Anfang an verzaubert hat, musste ich mich zuerst ein wenig zurechtfinden. Wir befinden uns mitten im Jahr 1987 in Tbilissi und springen dann ziemlich oft zwischen dieser "Vergangenheit" und der Gegenwart in Brüssel (2019) hin und her, was es mir anfangs ein wenig erschwert hat, voll in die Szenen einzutauchen.
Keto erzählt nämlich in Rückblenden von ihrer Kindheit, von der Freundschaft zur furchtlosen Dina, welche das Leben der vier Freundinnen sowie zahlreiche Kriegshandlungen in der Region als Fotografin festhält und somit zum unfreiwilligen Mittelpunkt der Gruppe wird. Nene, deren männliche Verwandte zu den gefürchtetsten Kriminellen der Region gehören und die kluge und stille Ira, welche immer wieder die Stimme der Vernunft sein muss, ergänzen das Kleeblatt. Die tragischen Ereignisse - welche im Detail geschildert werden - die Zeit, verschiedene Lebensentscheide und auch Verluste haben die vier Freundinnen auseinandergetrieben und bei der Begegnung in Brüssel, bei der die Fotografien von Dina ausgestellt werden, blickt Keto auf ihr gemeinsames Leben zurück.
In einzelnen Erinnerungsfetzen und mit vielen Unterbrüchen, bei denen stets wieder ein neues Bild und dessen Geschichte in den Fokus rückt, erzählt Keto nach und nach von tragischen Verlusten, von Verrat und Liebe, von ihrem kurzen Glück bei ihrer Arbeit ausserhalb Georgiens und der turbulenten Geschichte dieses Landes, das immer wieder zum Spielball von Grossmächten geworden ist.
So sehr mich dieses Buch mitgenommen hat, so sehr hat es mich auch unterhalten und ich habe mich zeitweise gefühlt, als würde ich Keto, Dina, Nene und Ira kennen, als wäre ich Teil ihrer Gruppe, ihrer Freundschaft, ihrer Geschichte gewesen und als ich das Buch (mit Tränen in den Augen) zugeschlagen habe, hatte ich das Gefühl, mich gerade von liebgewonnenen Menschen verabschiedet zu haben. Schon jetzt weiss ich, dass ich mir für dieses Buch stets wünschen werde, was ich mir auch für "Das achte Leben (für Brilka)" schon so oft gewünscht habe: ich wünsche mir so sehr, dieses Buch noch einmal zum ersten Mal lesen zu können und lieben lernen zu dürfen.

Schreibstil:
Nino Haratischwilis Sprache ist einfach einzigartig. Sie schafft es, detaillierte Beschreibungen, historische Ereignisse und Personen, Schicksale, Spannung, Familiendrama, Romantik und wunderschöne Wortpoesie zu einem Gesamtkunstwerk zu verweben.
Die Ereignisse und Kriegsszenen sind erschreckend aktuell, die Ängste der Menschen sehen wir täglich in unseren Nachrichten und die geschilderte Gewalt ist keine leichte Kost. Und trotzdem ist dieses Buch wunderschön erzählt, manchmal sogar tröstend, aber immer sehr poetisch und auf eine ganz eigene Weise fesselnd, spannend und sehr, sehr klug und kurzweilig.

Meine Empfehlung:
"Das mangelnde Licht" hat mich in die tiefsten menschlichen Abgründe, an Kriegsschauplätze und in Drohenhöhlen geführt, es hat mir aber auch ganz viel Liebe und Freundschaft und einen weiteren spannenden und wichtigen Teil der Geschichte Georgiens erleben lassen. Es hat mir intensive und packende Lesestunden beschert und ist mir ans Herz gewachsen, weshalb ich es euch auch dringenst empfehle.

Zusätzliche Infos:
Titel:
Das mangelnde Licht
Autorin:
Nino Haratischwili, geboren 1983 in Tbilissi/Georgien, ist preisgekrönte Theaterautorin, –regisseurin und Romanautorin. Ihr großes Familienepos Das achte Leben (Für Brilka), in 25 Sprachen übersetzt, avancierte zum weltweiten Bestseller, eine große internationale Verfilmung ist in Vorbereitung. Ihr Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Anna-Seghers-Literaturpreis, dem Bertolt-Brecht-Preis und dem Schiller-Gedächtnispreis, ihr Roman Die Katze und der General stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2018. Heute lebt die Autorin in Berlin. Ihr neuer Roman Das mangelnde Licht wurde bereits vor Erscheinen in 15 Länder verkauft.
Sprache:
Deutsch

Hardcover mit Lesebändchen und buntem Vorsatzpapier: 832 Seiten
Verlag:
Frankfurter Verlagsanstalt

Erschienen:
25.02.2022

ISBN:
9783627002930

2 Kommentare:

  1. Hallo Livia,

    wie schön, dass auch dieses Buch der Autorin dich begeistern konnte! So viele Seiten müssen aber auch geliebt werden, um nicht abgebrochen zu werden.

    Die Geschichte klingt auch für mich durchaus interessant, ich schrecke aber immer noch vor der Seitenzahl sowie der Sprache zurück. Ich bin nicht sicher, ob ich den Stil flüssig lesen könnte. Vielleicht sollte ich es auch mit dem Brilka Buch zuerst versuchen, wenn selbst du schon schwieriger in diesen Roman hier gefunden hast. Das lässt einen (oder mich) ja doch eher aufgeben, wenn es das erste Buch einer/eines Autor:in ist.

    Die ganzen Tippfehler hätten mich unfassbar aufgeregt, das kann ich auch so sagen. Und ich gebe dir absolut recht, bei einem Buch, das preislich doch eher in der oberen Klasse mitspielt, sollte das nicht passieren. Die Frankfurter Verlagsanstalt ist zwar ein kleinerer unabhängiger Verlag, aber ich finde, auch da sollte dahingehend investiert werden. Dass mal ein Wort, eine Vorsilbe, etc. zu viel da ist, wenn man einen Satz mehrfach umstellt oder umschreibt, passiert leicht und ist auch nicht schlimm, sollte aber in der Endfassung nicht mehr auftauchen.

    Liebe Grüße,
    Sandra

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    1. Hallo liebe Sandra

      Das stimmt, die vielen Seiten haben mich damals bei "Brilka" auch abgeschreckt (und Brilka hat noch 400 Seiten mehr), aber seither weiss ich, dass ich diesen Stil und diese Sprache infach liebe und vor keinem Haratischwili-Buch mehr zurückschrecken muss.

      Die Sprache ist ein Traum, wirklich. Ich hatte eher ein paar kleine Stolperer mit den verschiedenen Orten und Zeiten. Vielleicht liest du dir einfach einmal eine Leseprobe durch, das könnte dir schon einen guten Einblick in die Sprache und Erzählweise verschaffen.

      Ja, die Fehler haben mich wirklich auch gestört und einige davon hätte ich ja noch überlesen können aber wir sprechen von einer ziemlich hohen Anzahl und genau diese Fehler sind mir noch nie bei der Frankfurter Verlagsanstallt aufgefallen. Sehr, sehr schade...

      Alles Liebe an dich
      Livia

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