Morgenritual einer Zahnbürste


Wie jeden Morgen um etwa sieben Uhr wurde ich von einem hell aufflammenden Licht und viel zu lautem Geschrei im Badezimmer geweckt.
Ich hatte kaum die Augen geöffnet, da wurde ich schon von einer kleinen Kinderhand gepackt und aus meinem Becher auf der Fensterbank herausgehoben.
Das Zimmer mit der geräumigen Dusche, meinem besten Freund dem Waschlappen und den bunt gemusterten Gardinen verschwamm vor meinen Augen, als mich die Hand zum Waschbecken trug. Plötzlich fand ich mich unter einem wohlig warmen und nicht zu stark prasselnden Wasserstrahl wieder, der nach viel zu kurzer Zeit abgedreht wurde.
Nass und immer noch mit der Erinnerung an die Wärme des Wassers erfüllt wurde ich hastig mit einer Paste beschmiert, die nach Pfefferminze duftete und schwer auf meinen weichen Borsten lastete.
Die Paste brannte fürchterlich in meinen immer noch müden Augen. Aber wenigstens duftete ich sofort wie frisch geduscht.
Dann aber kam der unangenehme Teil des Morgens.
Bevor ich meinen Mund geöffnet hatte um zu schreien, wurde ich in einen Mund gesteckt, der einem kleinen Kind gehörte und trotzdem viel grösser war als meiner.
Ganz nach dem Motto „Augen zu und durch“ liess ich die schreckliche Prozedur des Zähneputzens über mich ergehen. Ich hatte diese Qualen des an weissen, scharf geschliffenen Zähnen Entlangschrubbens schon einige Male über mich ergehen lassen. Aber trotzdem war es jedes Mal eine wunderbar widerliche Angelegenheit.
Der Geruch im Mund des Kindes war zwar verglichen mit dem Geruch des vorhergehenden Morgens noch einigermassen erträglich. Aber diese muskelbepackte Zunge, die mich andauernd von der einen Ecke in die nächste drängte, der zähflüssige Speichel, der mit allerlei Unrat angereichert war und die Reste des Eintopfs vom Vorabend machten den Aufenthalt im Gaumen, zwischen, vor und hinter den Zähnen nicht gerade gemütlich.
Nach wenigen Minuten, also genauer gesagt, nach fast drei Minuten die mir jedoch wie drei Stunden vorkamen, durfte ich endlich wieder ans Tageslicht.
Noch nie war mir das grelle Leuchten einer Neonröhre so willkommen gewesen.
Ich wollte schon aufatmen, als ich noch einmal gewaschen wurde. Diesmal jedoch mit kaltem Wasser.
Als meine Augen endlich wieder klar sehen konnten, spürte ich noch immer die Kinderhand an meinem Körper.
Ich wurde rücksichtslos und ohne eines Blickes oder gar eines lobenden Wortes gewürdigt zu werden wieder durchs Zimmer getragen und in meinen Becher geworfen.
Wissen denn diese Menschen nicht, was für einen Dienst wir Zahnbürsten ihnen leisten? Eine ungeheuerliche Frechheit, zumal ich vom Waschlappen, der übrigens auch nicht viel besser behandelt wird als ich, weiss, dass mein Vorgänger nur wenige Wochen lang gelebt hatte, bevor er in den grünen Mülleimer unter dem Waschbecken gewandert war.
Na dann will ich ja mal hoffen, dass meine Borsten noch lange gerade in ihren Halterungen stecken bleiben und meine Farbe dem Kind ein Leben lang gefällt.

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