Brief an deine Seele


Weisst du es noch? Erinnerst du dich noch an unsere langen Gespräche die wir führten und wie wir zusammen lachten und um den kleinen See am Rande des Dorfes herumtollten?
Wir rannten in unzähligen Sommern über die grüne Wiese, die wie ein blumenbestickter Teppich zu unseren Füssen lag. Die Sonne schien und manchmal regnete es auch. Dann stürzten wir uns in unsere Regenmäntel und gingen nach draussen in den Regen bis wir pitschnass bis auf die Haut waren und noch viel länger.
Im Winter packten wir uns dick ein und machten uns mit Mützen und Handschuhen ausstaffiert und einen schweren Schlitten ziehend auf den Weg zum Hügel, den wir stundenlang hinuntersausten. Später gingen wir zu mir oder zu dir nach Hause und tranken die heisse Schokolade, die uns unsere Mütter vorsetzten und stopften uns mit Plätzchen voll.
Doch schon bald kam die Zeit, in der wir getrennte Wege gingen, du deinen, ich meinen, aber immer blieben unsere Seelen auf eine geheimnisvolle Art und Weise miteinander verbunden.
Wir sahen uns immer seltener, aber trotzdem noch häufig genug, um jeweils einen ganzen Tag lang über Gott und die Welt zu diskutieren und gemeinsam zu lachen.
Wir hatten unsere eigenen Wohnungen und erinnerst du dich noch daran, wie wir uns immer an der Wegkreuzung beim Strassenschild trafen und uns auch dort wieder voneinander verabschiedeten?
Es war kälter geworden. Ein richtig starker und verschneiter Winter, und wir waren bereits einundzwanzig Jahre alt. Volljährig, aber noch längst nicht erwachsen und so bummelten wir wie in alten Zeiten durch das Dorf, in dem wir nebeneinander aufgewachsen waren und fühlten uns wieder ganz klein.
Die bunten und hell erleuchteten Schaufenster, der Schnee, der wie Puderzucker über allem lag und der weihnachtliche Duft nach Zimt und Muskatnuss versetzten uns in unsere Kindheit zurück und wir genossen die zahlreichen traumähnlichen Erinnerungen in stiller Andacht versunken.
Und wie es so ist, folgten ein Frühling und schliesslich auch ein Sommer auf den Winter.
Dieser folgende Sommer jedoch, war erschreckend anders als alles bisher Dagewesene.
Er sollte nämlich dein letzter Sommer werden.
Noch immer kann ich kaum fassen, was damals geschah, am Ort unserer Kindheit und Jugend, voller Träume und Sehnsüchte und voller Geheimnisse und Schatten.

Zu Anfang war eigentlich alles wie immer. Die Sonne schien, es war warm und die Luft war noch nicht zu stickig, sondern herrlich frisch.
An deinen roten Badeanzug kann ich mich noch immer erinnern, wie wenn es gestern gewesen wäre, nur liegt es schon mehr als vierzig Jahre zurück.
Was ich an jenem denkwürdigen Tage getragen habe, weiss ich nicht mehr, nicht einmal mehr eine schwache Erinnerung oder auch nur der Hauch einer Erinnerung ist mir davon geblieben.
Ich werde aber nie mehr in meinem ganzen Leben vergessen, wie die Luft plötzlich ganz still wurde und von einem Atemzug auf den nächsten von einem eigenartigen und auch beunruhigend bedrohlichen Sirren erfüllt war.
Es war, als hätte die Natur den Atem angehalten und dann begonnen, auf ein Ereignis zu warten, dessen Schrecken noch unbekannt war, der sich jedoch schon bald offenbaren würde.
Und dann auf einmal geschah es. Die Stille wurde durchbrochen von einem einzigen, markerschütternden Schrei. Deinem Schrei.
Für den Bruchteil einer Sekunde war alles still und erstarrt, und dann begann das Leben wieder von neuem. Vögel stoben in den Himmel und die Baumwipfel bewegten sich leicht im sanften Wind. Ich sehe es immer noch vor meinem inneren Auge, wie ich zum Ufer rannte, mir im wilden Lauf die Kleider vom Leibe riss, die ich über meinen Badeanzug trug und mich innerlich auf das schrecklichste gefasst machte, das ich je gesehen hatte.
Aber es kam noch schlimmer, als ich mir das in meinen grausamsten Albträumen hätte vorstellen können.
Als erstes stach mir dein roter Badeanzug ins Auge.
Dann sah ich den morschen Baumstamm, der wohl unter der Last seiner Äste und Zweige zusammengebrochen war. Seine Neigung war schon immer bedenklich gewesen, er hatte sich nur wenige Handbreit über dem Wasser befunden und gedroht, jeden Moment gänzlich umzuknicken.
Ich kann mir bis heute nicht erklären, was dich dazu bewegt hatte, in die Nähe des Baumes zu schwimmen. Uns war schon als wir klein waren immer und immer wieder eingeschärft worden, dass wir uns von jeglichen Bäumen, die bis hinunter zum Wasser ragten fernzuhalten hatten.
Aber wie es schien, hatten diese Mahnungen bei dir keine Wirkung gezeigt.
Ich stand wie gelähmt am Ufer, unfähig, mich zu bewegen oder gar zu realisieren, was ich sah. Dann plötzlich hörte ich einen weiteren Schrei, einen Schrei voller Schmerz und Angst und Wut. Als ich realisierte, dass der Schrei aus meiner Kehle drang, verlor ich das Bewusstsein.
Ich erwachte in einem Krankenhaus, in der Nähe unseres Dorfes und als ich meinen noch nassen Badeanzug auf einem Stuhl in einer Ecke des Zimmers sah, fiel es mir wieder wie Schuppen von den Augen, was passiert war.
Die Ärzte erklärten mir dann, dass ich von einem Passanten entdeckt worden war und die Sanitäter, die bald darauf eingetroffen waren, hatten nicht nur meinen, sondern auch deinen Körper gefunden, der unter dem Baumstamm begraben gewesen und schon keinen Funken Leben mehr in sich getragen hatte.
Von diesem Moment an war alles zerstört und in seinen Grundfesten erschüttert gewesen.
Ich musste mich Schritt für Schritt nach vorne, wieder ins Leben zurück tasten, immer mit der Angst im Rücken, einen Schritt vor und zwei Schritte zurück zu machen.
Aber ich lebte weiter, für dich und auch für mich. Ich trug unsere beiden Seelen in mir drin und vereinte sie in meinem Körper, meinem Denken, Fühlen und Handeln.
Es gelang mir, zu akzeptieren, hinzunehmen und zu realisieren, was geschehen war. Aber ganz verstehen werde ich wohl nie.

Nun bin ich älter geworden und die Schatten der Vergangenheit verfolgen mich noch immer.
Zwanzig Jahre unseres Lebens lebten wir Seite an Seite und teilten alles miteinander.
Wie Schwestern waren wir und nichts schien uns trennen zu können.
Jetzt sitze ich wieder hier, alleine an unserem See, um endlich mit allem abschliessen zu können, was war.
Wenn ich diesen Brief an dich beendet habe, werde ich aus einigen Zweigen und einem Stück Schnur ein Floss bauen, den Brief in einen kleinen Umschlag stecken und diesen fest auf dem Floss vertäuen.
Dann werde ich dem Gebilde einen leichten aber ausreichenden Stoss geben und zusehen, wie meine Worte an dich auf dem Floss entschwimmen und hoffentlich werde ich auch spüren, wie meine Seele immer leichter wird und endlich, endlich loslassen kann.
Es ist vorbei, ich habe nichts mehr zu sagen. Es bleibt mir nur noch, dir für deine wunderbare Freundschaft und die schönen Stunden zu danken, die wir zusammen erlebt haben.
Einige deiner Worte werde ich immer in meiner Erinnerung, fest in meinem Gedächtnis verankert bei mir tragen und vor allem die Erinnerung an dein Lächeln wird mich mein restliches Leben lang von innen erwärmen und mir die Kraft geben, die ich für alles was noch kommt benötige.
Mein Engel und meine selbst erwählte Schwester, du warst alles für mich und hast mir mit deinem viel zu kurzen Abstecher auf diese Welt mein Leben versüsst.
Bitte warte auf mich, ich werde bald nachkommen, denn auf dieser Erde gibt es nichts mehr für mich zu tun.
Pass gut auf dich auf und halte im Himmel ein Plätzchen für mich frei. Am liebsten dort, wo ich hingehöre. Direkt bei dir.

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