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06 Mai 2021

Rezension: Wildauge

Wildauge - Katja Kettu

Beschreibung des Verlages:

»Zu einem Star der finnischen Literatur ist Kettu allein durch dieses eine Buch geworden.« Die Zeit
Lappland im Sommer 1944. Johannes Angelhurst ist deutscher Offizier, er soll als Fotograf die finnischen Verbündeten porträtieren. Als er der Hebamme »Wildauge« begegnet, ist er fasziniert. Ihr Blick ist frei und ungestüm - fast wie der eines wilden Tieres. Auch Wildauge fühlt sich sofort zu dem schweigsamen Mann in seiner schwarzen Uniform hingezogen. Und so lässt sie sich, als er in ein Kriegsgefangenenlager abkommandiert wird, dort als Krankenschwester einschleusen. Zwischen beiden entbrennt eine bedingungslose, wilde Leidenschaft. Doch im Lager passieren grauenvolle Dinge. Und der Krieg geht dem Ende zu, Deutsche und Finnen stehen nicht länger auf derselben Seite ...

Inhalt:
"Wildauge" ist eine angesehene Hebamme. Sie gibt Leben und sie nimmt Leben. Mitten im Krieg ist sie es, welche den Frauen unter der Geburt beisteht und zahlreiche Mittelchen kennt, um diverse Wehwechen zu lindern, aber auch grosse Operationen durchzuführen. Sie ist ungezähmt und willig zugleich, leidenschaftlich, eifersüchtig und selbstbewusst und als sie sich in den deutschen Offizier Johannes Angelhurst verliebt, ist es um sie geschehen. Sie riskiert Kopf und Kragen und folgt ihm als Krankenschwester in ein Kriegsgefangenenlager. Dort sieht sie die Hölle und wird Teil von Kriegsmechanismen, welche sie weder überblicken, noch steuern kann.

Meine Meinung:
Ich habe dieses Buch aufgrund der begeisterten Rezension von Mareike Fallwickl gemeinsam mit Melanie von @nocheinbuch gelesen und bin wirklich froh, dass Melanie und ich uns intensiv darüber austauschen und unsere persönlichen Erfahrungen miteinander teilen konnten. "Wildauge" ist ein Buch, das fordert. Es ist roh und hart und kalt. Es beschreibt zuerst, wie Menschen und Orte riechen (und meistens ist das ein entsetzlicher Gestank), bevor es die Blicke beschreibt, welche sich die Figuren über Lazarette und Schlachtfelder, über gefrorenes Wasser und unsägliches Leid hinweg zuwerfen. Ja, ich habe mich geekelt und dabei fasziniert der Hebamme "Wildauge" über die Schultern geblickt, die im einen Moment bis zu den Ellenbogen in einer Gebärenden drinsteckt und im nächsten Augenblick ohne Schmerzmittel ein Bein amputiert. Voller Abscheu habe ich gelesen, wie sehr sich ihr Geliebter Johannes Angelhurst vor der Wirklichkeit und seinen eigenen Taten verschliesst und dabei natürlich auch bemerken müssen, dass er auch nur ein kleines Rädchen im System ist und dass Krieg nun einmal genau so ist, wie die Handlung sich in diesem Buch entwickelt: chaotisch, schmutzig, leidvoll, unschön und grausam.

Schreibstil:
Zuerst einmal möchte ich erwähnen, dass "Wildauge" von Angela Plöger hervorragend übersetzt und mit einem ausführlichen Nachwort ausgestattet worden ist. Dieses Nachwort, sowie der Glossar und die Quellenverweise machen dieses Buch erst so richig komplett. Es fällt mir nämlich nach wie vor schwer, Worte zu finden, um die aussergewöhnliche Sprache von Katja Kettu zu beschreiben. Erst beim Lesen des Nachworts hat sich mir auch ein wenig erschlossen, woran das liegen könnte: Katja Kettu hat eigene, passende Wortkreationen oder sogar ganz neue Wörter erfunden, um zu beschreiben, was ihre Protagonistin erlebt und vor allem auch fühlt. Die Übersetzerin musste es ihr folglich gleichtun, was ihr grandios gelungen ist.
Kettu beschreibt liebevoll, fast zärtlich, wie sich die Gezeiten verhalten, wie sich das Meer kräuselt, der Himmel sich verfärbt oder das Wasser zufriert. Dieser Zartheit und Schönheit setzt sie die Gräuel des Krieges - menschliche Abgründe, klaffende Wunden, stinkende Fäulnis, rohes Töten, gierige Geilheit - gegenüber und verwendet dafür eine brutale, zupackende, derbe Sprache, an der Natur und Tierwelt angepasste Formulierungen (Frauen kalben oder werden besprungen) und detaillierte Beschreibungen von Taten und Geschehnissen. Dies alles wird in Etappen und Zeitsprüngen erzählt und setzt sich erst nach und nach aus Tagebuchberichten, Erinnerungen und Erzählungen zusammen. Dort, wo alles seinen Anfang nahm und vielleicht oder vielleicht auch nicht enden wird: in der Bucht des toten Mannes.

Meine Empfehlung:
"Wildauge" bewegt, begeistert, widert an und entsetzt und doch habe ich mich von der Protagonistin und den atemberaubenden Naturschilderungen an der Hand genommen gefühlt und dieses Buch in kleinen Etappen und mit Gänsehaut verschlungen. Seid mutig und lest es.

Mareike Fallwickl hat für dieses Buch übrigens die passendste Empfehlung getextet, die man sich nur vorstellen kann:
"Traut euch an dieses Buch heran, wenn ihr etwas spüren wollt bei eurer Lektüre, wenn ihr euch fürchten und ekeln wollt, wenn ihr eine Axt wollt für das gefrorene Meer in euch."

Zusätzliche Infos:
Titel:
Wildauge

Originaltitel: Kätilö
Autorin: Katja Kettu, Jahrgang 1978, ist eine der wichtigsten Autorinnen Finnlands. Ihr preisgekröntes Debüt Wildauge stand wochenlang auf Platz 1 der finnischen Bestsellerliste. Der Roman erschien in 20 Sprachen und wurde verfilmt.
Sprache: Deutsch
Aus dem Finnischen von: Angela Plöger
Taschenbuch: 416 Seiten
Verlag: Ullstein Taschenbuch
Erschienen: 06.11.2015
ISBN: 9783548286167

6 Kommentare:

  1. Hi Livia,

    das ist an sich ein Buch, das mich von der Handlung her eigentlich gar nicht anspricht. Gerade Geschichten über den Krieg lese ich einfach nicht gerne, aber was du beschreibst klingt wirklich sehr überzeugend!
    Der besondere Stil und die Offenheit, mit der die Autorin beschreibt, macht definitiv neugierig, auch wenn ich es nicht lesen werde.
    Aber ich empfehle es gerne weiter. Das ist sicher ein Buch, das noch lange nach dem Lesen nachklingt.

    Vielen Dank für die tolle Rezension!

    Liebste Grüße, Aleshanee

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    1. Liebe Aleshanee

      Das Buch lohnt sich definitiv, ist aber auch nicht ganz leicht zu verdauen und klingt - wie du schon schreibst - lange nach. Danke, dass du es weiterempfehlen wirst.

      Alles Liebe
      Livia

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    2. Witzig: grade heute hab ich gesehen, dass es dazu einen Film gibt!
      Wirst du dir den anschauen?

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    3. Stimmt, das habe ich auch gesehen und den Trailer dazu habe ich mir schon angeschaut. Ob ich den Film allerdings sehen möchte...ich weiss nicht. In Büchern kann ich mit Gewalt und Missbrauch usw. oft besser umgehen, weil ich in meinem Tempo und mit meinen Bildern damit umgehen kann. In Filmen werden mir Bilder und ein Tempo aufgezwungen und je nach Verfassung beschäftigt mich das dann sehr, sehr, sehr. Gerade bei diesem Buch bin ich mir deshalb nicht sicher, ob ich die Verfilmung sehen möchte, obwohl ich sonst Buchverfilmungen oft sehr gerne schaue und auch gut vom Buch trennen kann ;-)

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  2. Schönen guten Morgen! Deine Rezension hab ich heute auch gerne in meiner Stöberrunde verlinkt :)

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    1. Den Kommentar habe ich noch gar nicht gesehen, in der Stöberrunde habe ich meinen Post aber schon entdeckt. Danke dir von Hezren!

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