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16 März 2018

Rezension: Und es schmilzt

Und es schmilzt - Lize Spit

Beschreibung des Verlages:
Ein Buch, das alles gibt und alles verlangt.
Mit geschlossenen Augen hätte Eva damals den Weg zu Pims Bauernhof radeln können. Sie könnte es heute noch, obwohl sie viele Jahre nicht in Bovenmeer gewesen ist. Hier wurde sie zwischen Rapsfeldern und Pferdekoppeln erwachsen. Hier liegt auch die Wurzel all ihrer aufgestauten Traurigkeit.
Dreizehn Jahre nach dem Sommer, an den sie nie wieder zu denken wagte, kehrt Eva zurück in ihr Dorf – mit einem großen Eisblock im Kofferraum. 

Meine Meinung:
Diese Buch musste bei mir einziehen, weil ich unbedingt mitreden, mitfühlen, mitbeurteilen wollte, was ich schon oft im Internet darüber gelesen hatte. Und als sich dann schliesslich die perfekte Gelegenheit bot (HIER ist die Geschichte um diesen Buchkauf nachzulesen), durfte das Buch dann auch endlich bei mir einziehen.
Oft habe ich gelesen, dass sich die ersten 300 Seiten von "Und es schmilzt" ein wenig hinziehen. Dies fühlte sich für mich aber überhaupt nicht so an. Innerhalb von wenigen Sätzen war ich im dichten, atmosphärischen Schreibstil gefangen, der mit einer unterschwelligen Bedrohung gespickt war und die ganze Szenerie, die Figuren und ihre Handlungen mit düsteren Farben zeichnete. Diese grandiose Leistung der Autorin, Unbehaglichkeit von der ersten bis zur letzten Sekunde aufrecht zu erhalten, das Netz langsam enger zu ziehen und die Bedrohung schliesslich überhand nehmen zu lassen, ist zu bewundern. Und ich denke, dass man dies als Leser estimieren muss. Unabhängig davon, wie man den Inhalt findet. Und ja, der kann verstörend sein. Man sollte nämlich wissen, dass man es hier nicht mit einer frühlingshaften Lektüre zu tun hat, sondern mit einer sehr bewegenden Erzählung, die Vernachlässigung, Verlust, Angst, Einsamkeit und Schmerz beinhaltet.

Schreibstil und Handlung:
Wie bereits erwähnt, wird mit dem Schreibstil eine besondere Atmosphäre geschaffen. Diese ist äusserst düster, unheilschwanger und sorgt dafür, dass man als Leser ganz nahe an der Protagonistin Eva und ihrer Sicht und Empfindung ist.
Zusätzlich finde ich die Verschmelzung der Zeitebenen sehr gelungen. Gleich zu Beginn treffen sich Vergangenheit und Gegenwart. Eva wird nämlich an einen Schauplatz eingeladen, an den sie eigentlich nie wieder erinnert werden will. Dann springt die Erzählung zurück zu Eva als Kind und arbeitet sich chronologisch nach vorne, bis zu dem Ereignis, das den Ausschlag für alle Handlungen in der Gegenwart gibt. In der Gegenwart erleben wir mit Eva gleichzeitig einen ganzen Tag, an dem sie Stunde für Stunde näher an einen Ort, an ein persönliches Ziel kommt, das sie mit ihrer Geschichte abschliessen  lassen soll.
Die junge Eva lebt mit ihren Geschwistern bei ihren Eltern, die Alkoholiker sind. Ihre besten Freunde sind Pim, der aus einer Bauernfamilie kommt und einen schrecklichen Schicksalsschlag zu verkraften hatte und Laurens, dessen Eltern eine Schlachterei besitzen. Sie alle, aber vor allem Eva, leben ein nahezu autonomes Leben, das von keinem Erwachsenen kontrolliert wird. Lediglich Laurens Mutter verbreitet ab und an ein wenig scheinheilige Wärme. So erstaunt es nicht, dass ohne die soziale Kontrolle eines Erziehungsberechtigten Grenzen getestet und überschritten werden. Auf dem Land herrscht dörflich-hinterwäldlerische Brutalität vor, die Menschen geben keine Acht auf sich, geschweige denn auf die anderen. Das Leben ist hart, der Kampf ums Überleben als Kleinbetrieb noch härter.
Aber in erster Linie handelt dieses Buch nicht von Grausamkeiten, die Menschen anderen Menschen antun können im allgemeinen, sondern darum, was Eltern ihren Kindern durch ihre Existenz oder eben auch Inexistenz verbauen können, darum, wie Lieblosigkeit, Verachtung und Missgunst unter Erwachsenen ungefiltert auf den Nachwuchs übertragen wird. Darum, wie gnadenlos zerstörerisch es sein kann, ingoriert, geprügelt und vergessen zu werden. Da ist nur als ein Beispiel die Mutter, die dreimal täglich unter einem Vorwand in den Hühnerstall verschwindet, weil dort die Schnapsflasche steht. Und jetzt multipliziere man dies auf alle Protagonisten und ihre Familien...

Warum mich "Und es schmilzt" nicht schockiert, sondern gegruselt hat:
Ein wichtiger Part in "Und es schmilzt" nimmt die Freundschaft um Eva, Laurens und Pim ein. Die drei ziehen alleine los, verstossen gegen Regeln, lungern herum, vertreiben sich die Zeit mit selbst ausgedachten Spielen und Ranglisten, die - mit zunehmendem Alter - heftiger und unkontrollierter/unkontrollierbarer werden.
Dabei ist vor allem ein Rätsel zentral, das immer wieder erwähnt wird und einige Aktionen zur Folge hat, die man sich nur schwer vorstellen kann. Und hier genau liegt die Schwäche des Romans: obwohl das Rätsel nicht ausformuliert wird, lässt sich aufgrund des Titels und den möglichen Antworten klar erahnen, was es damit auf sich hat (und zwar auch dann, wenn man das Rätsel - so wie ich - vorher nicht kannte). Genauer wird dann sofort ersichtlich: was es mit Evas Eisblock auf sich hat, wie dieser eingesetzt wird (werden kann) und wie das Buch endet. Diese Vorhersehbarkeit mindert das Leseerlebnis enorm und hat mich wirklicht gestört. Ich habe mich ernsthaft für dumm verkauft gefühlt. Dachte sich die Autorin wirklich, dass ihr Handlungsaufbau so undurchschaubar sei? Auch wenn nach 50 Seiten klar ist, wie das Buch ausgeht?
Und was dann wirklich gruselig ist, heftig, eklig, zerstörerisch, sind die Handlungen, die zu diesem Ende führen. Denn auch wenn da immer wieder Lichtblicke sind, wie die Fürsorge von Evas älterem Bruder Jolan oder die Stärke ihrer jüngeren und ganz schwer traumatisierten Schwester Tesje, ist dieses Buch eine einzige - grandios erzählte - Abwärtsspirale.

Meine Empfehlung:
"Und es schmilzt" ist harte Kost. Es sollte euch allen bewusst sein, dass ihr mit Dingen auf so rohe und überwältigend brutale Art in Kontakt kommen könnt, dass sie euch nicht mehr los lassen.
Aber ein grandioser Schreibstil, eine Botschaft, die zum Nachdenken anregt, gegen das Wegschauen plädiert und von vielen wirklich einzigartigen Ideen gespickt ist, sprechen für die Lektüre dieses Buches, das ich euch sehr, sehr gerne weiterempfehle.

Zusätzliche Infos:
Titel:
Und es schmilzt
Originaltitel:
Het smelt
Autorin:
Lize Spit wurde 1988 geboren, wuchs in einem kleinen Dorf in Flandern auf und lebt heute in Brüssel. Sie schreibt Romane, Drehbücher und Kurzgeschichten. Ihr erster Roman »Und es schmilzt« stand nach Erscheinen ein Jahr lang auf Platz 1 der belgischen Bestsellerliste und gewann zahlreiche Literaturpreise, darunter den Bronzen Uil Preis für den besten Debütroman und den Preis des niederländischen Buchhandels für den besten Roman des Jahres 2016.
Sprache:
Deutsch
Originalsprache:
Niederländisch
Übersetzt von:
Helga van Beuningen
Hardcover:
512 Seiten
Verlag:
S. FISCHER
Erscheinungstermin:
24.08.2017
ISBN:
978-3-10-397282-5

6 Kommentare:

  1. Liebe Livia,
    danke für deinen Hinweis zur Rezension. Mensch, da hast du deine Gedanken ja ganz großartig ausgedrückt. Ich habe während des Lesen die ganze Zeit mit dem Kopf genickt. Ich selbst hatte immer das Gefühl, ich könnte nicht so anschaulich beschreiben, was ich beim Lesen empfunden haben. Nur die Sache mit dem Eisblock, die war für mich überhaupt nicht vorhersehbar. Einfach, weil ich in diese Richtung nicht gedacht habe. Ich dachte nur immer, was will Eva nur mit diesem Eisblock im Kofferraum?? Irgendwann war es mir dann natürlich klar, aber erst im letzten Buchdrittel, als da Rätsel zur Auflösung kommt. Wahrscheinlich war ich in dieser Sache einfach zu arglos.
    Grüße dich lieb,
    Damaris

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    1. Liebe Damaris

      Vielen herzlichen Dank für deine Worte, die bedeuten mir sehr viel. Du siehst, um welche Uhrzeit die Rezension online gegangen ist. Ich war mehr als eine Stunde am Tippen, weil ich so sehr nach Worten gerungen habe. Schön also, dass mir dies gelungen ist.

      Ich weiss nicht, warum mir das so klar war. Ich liebe "Black Stories", kennst du die? Vielleicht lernt man da diese eher ungewöhnliche Form der Kombination von Ereignissen ;-)

      Ganz liebe Grüsse dir und noch einen schönen Abend
      Livia

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    2. Hi Livia,
      also ich finde deine Rezi wirklich großartig. (Und nur einen Stunde? Hut ab, ich tippe oft länger.)
      Die "Black Stories" kenne ich nicht, aber es kann gut sein, dass du darum sensibel für Auflösungen bist :-)
      LG,
      Damaris

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    3. Hallo du Liebe

      Herzlichen Dank, das schmeichelt mir :-)

      Ich tippe tatsächlich oft nur ca. 20 - 30 Minuten, weil ich die Rezension eigentlich direkt nach dem Lesen in meinem Kopf vorformuliere und dann nur noch "abtippen" muss.

      Die Dinger haben wir als Kinder schon gelöst, obwohl die manchmal echt makaber sind. Wenn du Rätsel magst, dann schau dir die ungedingt einmal an. Gibt es jetzt sogar auch für Kinder ;-) und für Weihnachten, mit Gespentern, mit wahren Kriminalfällen....einfach toll :-)

      Noch ganz eine gute Woche
      Livia

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  2. Hallo liebe Livia!

    Du bist gerade so fleißig am Rezensionen schreiben, lesen und posten, dass ich mit dem Kommentieren gar nicht hinterherkomme. *lach* Ich freue mich, dass du momentan so große Freude am Bloggen hast!! :)

    Sei dir gewiss, dass ich deine Beiträge gespannt verfolge. "Und es schmilzt" habe ich schon seit dem Erscheinen im Auge. Natürlich weiß ich, dass es harte Kost zu sein scheint, aber dennoch zieht mich das Buch irgendwie an. Schade, dass es dann doch ein wenig vorhersehbar ist. Dennoch denke ich, dass es mich fesseln könnte. Ich werde auf jeden Fall in die Leseprobe schnuppern und dann wohl erst mal meine Mum lesen lassen, damit sie mich vorwarnen kann, ob ich das aushalte. *lach* Ich bin bei Büchern eher zwartbesaitet, bei Filmen dagegen überhaupt nicht. Liegt wohl daran, dass mein Kopfkino besser ist als jeder Film. ;)

    Liebste Grüße
    Nina von BookBlossom

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    1. Hallo liebe Nina

      Es ist gar nicht unbedingt mehr Freude am Bloggen (oder vorher weniger Freude am Bloggen), es war im März einfach so, dass ich total viel parallel gelesen habe und dann einfach plötzlich drei Rezensionen fällig waren. So hat sich das ergeben.

      Ja, "Und es schmilzt" ist heftig, aber ich denke, dass jede Person ihren eigenen Zugang dazu finden kann und soll. Meiner Meinung nach ist es ein wichtiges Buch, das grosse Themen anspricht und auch zur Diskussion stellt. Der Nachteil: man kann keine Inhaltswarnung abgeben, ohne zu spoilern. Jede Person muss also noch während der Lektüre entscheiden, ob das Weiterlesen möglich ist, zumal es erst nach mehr als der Hälfte der Seiten wirklich extrem wird. Da wird dir die Leseprobe also nichts nützen.

      Ich möchte dich aber sehr zum Lesen dieses Buches ermutigen und vielleicht kannst du dich ja mit jemandem austauschen (oder in der Lovelybooks Leserunde, wo Spoiler erlaubt sind, weiterdiskutieren), damit dir alles nicht zu nahe geht.

      Alles Liebe
      Livia

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