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15 Mai 2016

Andorra, Frisch in Zürich

Claudius Körber (auch auf Projektion)
"Auch wir sind die Verfasser der andern, wir sind verantwortlich für das Gesicht, das sie uns zeigen. Verantwortlich nicht für die Anlage, aber für die Ausschöpfung dieser Anlage."

Mit einer lieben Freundin durfte ich gestern/heute Samstagabend, 14.5.16 an der Premiere von "Andorra" von Max Frisch im ausverkauften Schiffbau in Zürich beiwohnen und mich  von den Darstellern und der ganzen Gestaltung verzaubern und aus meinem Alltag entführen lassen. "Andorra", das berühmteste Stück des gesellschaftskritischen Schriftstellers Frisch, wurde von nur drei Schauspielern brillant umgesetzt und mit einem überwältigenden Bühnenbild, tollen Licht-, Ton- und Filmeffekten und schlichten, aber sehr wirkungsvollen Kostümen untermalt und ausgestattet. Ein grosses Lob gilt hier auch der Regie und der Technik, die eine solide, äusserst kreative und fesselnde Produktion geschaffen haben.
Die Geschichte der jungen Lehrerstochter Barblin, verletzlich und mutig zugleich dargestellt von Henrike Johanna Jörissen, und ihrem Verlobten und Pflegebruder, dem vermeintlichen Juden Andri, hat mich berührt und nachdenklich gemacht.
Einmal mehr zeigt sich in der aktuellen Produktion Frischs Aktualität in der gekonnten Einarbeitung von Themen wie Schuld, Rassismus, Vorurteilen und dem Bild, das Menschen sich von anderen Menschen machen und dann so lange darauf beharren, bis sie es auch selber glauben. Und dem Regisseur Bastian Kraft und dem Filmemacher Jonas Link gelingt es auf einzigartige Weise, Frischs Bilder und Rollen, in denen die Menschen gefangen sind, auf mehr und immer mehr Bildschirme zu projizieren und so die Schlinge um die Liebenden immer enger zu ziehen.
Im Ort Andorra treffen Meinungen und Menschen aufeinander und immer geht es dabei um Liebe, Schmerz, Stolz, Verletzung und der Verlorenheit eines jungen Mannes, der sich wieder und wieder seiner Herkunft und Zugehörigkeit beraubt sieht und dabei so einsam, verlassen und ohne Wurzeln ist, wie man nur sein kann. Um Andri also, der alleine gelassen wird mit seinen Gefühlen, der als Sündenbock herhalten muss und selber nicht weiss, welche der vielen möglichen Rollen er in seinem Leben erfüllen kann, darf, soll, muss und will. Und als seine Mutter, die Senora, gespielt von Susanne-Marie Wrage, auf der Bildfläche erscheint, eigentlich, um ihren Sohn zu retten und seinen Vater der Lüge zu überführen, wird sie getötet und der "Jud" wird beschuldigt. Einmal mehr. Claudius Körber legte gestern Abend eine schauspielerische Glanzleistung als Andri hin. Und ausserdem spielte und demaskierte er zugleich alle anderen Dorfbewohner, Feinde und Verurteiler, und legte zwar die Masken ab, liess sie alle ihr wahres Gesicht zeigen, dass sie nämlich eins waren mit ihm, seinen Gedanken, zu denen sie geworden waren, aber da war es für alle zu spät.

Der wunderbar aufeinander abgestimmten Truppe ist ein eindringliches, beklemmendes und in sich stimmiges Ganzes gelungen, das sich definitiv anzusehen lohnt. Wer also in den nächsten Tagen in Zürich ist, soll gleich hier Karten reservieren und sich einen Abend im Schiffbau gönnen.

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