Stabat Mater

Im Sommer vor nun schon mehr als einem Jahr, als die Schule gerade begonnen hatte, sah ich sie. Die Mutter und ihren ganz kleinen Sohn, der wohl gerade erst in den ersten Kindergarten gekommen war. Es war offensichtlich, dass sie in dieser Relation zueinander standen. Sie begleitete ihn den langen Weg der Strasse entlang. Und ich sah die beiden immer öfter zur immer gleichen Zeit. Munter plaudernd, beschwingten Schrittes.

Eines Tages, es war ein strahlend schöner, bereits goldener Herbsttag, kam er mir wieder entgegen. Alleine. Er summte vor sich hin und blickte fröhlich jedem Käfer und Vogel nach. Nichts vom Schmerz seiner Mutter ahnend. Schon von weitem sah ich diese nämlich weiter hinten an der Strasse stehen. Unerschütterlich, wie ein Fels in der Brandung. Aber sie blickte ihm traurig hinterher. Ein erstes Loslassen hatte begonnen. Als ich an ihr vorbeiging, bemerkte ich die Tränen, die ihr über die Wangen liefen. Ihr kleiner Sohn ging gerade zum ersten Mal in seinem Leben diese weite Strecke alleine.

Fast ist mir bei ihrem Anblick das Herz gebrochen. Und ich sah sie noch tief in den Winter und ins nächste Jahr hinein immer wieder dort stehen und ihrem Kind nachblicken. Ich bin mir sicher, dass sie jeden Tag dort stand (ich sah sie nur nicht jeden Tag, weil ich natürlich nicht immer zur gleichen Zeit das Haus verlassen musste). Und wahrscheinlich hat sie sich jeden Tag gesagt, dass dies der letzte Tag sein wird, an dem sie dort stehen wird und stand dann am nächsten Tag doch wieder dort. Wohlwissend, dass ihr Kind den Weg zum Kindergarten bereits selber schaffen könnte, aber noch nicht bereit, ganz loszulassen, ihn mit Blicken beschützend.

Eines Tages stand sie nicht mehr dort. Über Wochen hinweg nicht mehr, sie hatte es geschafft. Sie beide, eigentlich. Und erst da wurde mir wirklich bewusst, welch grossen Schritt sie wohl getan haben musste, welcher Prozess hinter diesem kleinen Abschied stand. Nach Wochen des Stehens und Wartens und Beschützens.

Und egal, ob stimmt, was in der Bibel steht, egal, ob Maria wirklich Höllenqualen am Kreuze ihres Sohnes ausgestanden hat. Heute geht es nicht um das Sterben. Darum, dass jemand rechthaberisch sagt: "ich habe es euch doch gesagt, ich komme wieder". Es geht um keine Religionen, keinen Glauben (obwohl der Karfreitag wohl der emanzipierteste Tag in der christlichen Kirche darstellt, da Maria, die Mutter Gottes, in allen Erzählungen und Evangelien, welche von diesem Tag handeln, nie von der Seite ihres Sohnes Jesus gewichen ist und dies erst noch gemeinsam mit anderen Frauen).
Heute geht es um diese Mütter, die an der Seite ihrer Kindes gestanden haben während ihrer schwärzesten Stunden und ihrer leichtesten Augenblicke. Es geht um Mütter, welche ihre Kinder losgelassen und dann aufgefangen haben. Immer und immer wieder. Und um einige, die dies vielleicht sogar für immer tun mussten.

Es gibt wohl niemanden, der diesen Schmerz besser in Musik gefasst hat, als Giovanni Battista Pergolesi. Und ich teile sonst keine Musik mit euch. Weil wir täglich beschallt werden und weil niemand mehr wirklich zuhört. Aber heute lade ich euch zum Zuhören ein.


Ich weiss nicht, ob du das liest, aber immer, wenn ich mich an dieses Erlebnis erinnere, muss ich an dich denken. Du weisst, dass du gemeint bist.

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