Sie

Sie ist sehr schlank und wunderschön. Eher klein aber nicht unauffällig. Schweizerin. Im Gegenteil zu anderen Menschen auf der Strasse sieht sie überhaupt nicht verwahrlost aus. Als es im Winter so unglaublich kalt war, hat sie sich den dicken Schal mit klammen Fingern um den Hals geschlungen und die nicht unbedingt für den Winter bestimmte Jacke krampfhaft vorne zusammen gehalten.
Damals hat sie mich in der Bahnhofsunterführung um ein paar Münzen angebettelt. Ich habe sie von oben bis unten betrachtet und bemerkt, dass sie wohl nicht viel älter ist als ich. Wütend habe ich sie angeschnauzt, sie solle sich einen Job suchen. Sie hat mich noch den ganzen Weg lang - bis ich aus der Unterführung verschwunden war - beschimpft.

Ich verstehe es, wenn ältere Menschen, von der Gesellschaft ausgegrenzt und enttäuscht, durch alle Maschen des sozialen Netzes gefallen, betteln und auf der Strasse leben. Sie leben auf der Strasse, weil dies ein bewusster Entscheid gegen die Sozialwerke dieses Landes ist. Ausserdem sind einige menschliche Schicksale so traurig, dass es für Betroffene gar nicht mehr möglich ist, sich ohne Hilfe in diese Gesellschaft zu integrieren und wenn man gewisse Jahre lang auf der Strasse gelebt hat, ist es auch verständlich, dass man sein Leben nicht komplett umkrempeln will und kann. Ich gebe nie Geld, nur Esswaren. Aber ich gebe in solchen Situationen gerne. Ich weiss, es gäbe Einrichtungen und Gelder und natürlich muss man sich anpassen, um solche Gelder zu erhalten, aber man kann wählen, ob man diese an Bedingungen geknüpfte Hilfe annimmt oder auf der Strasse lebt.

Aber ich verstehe das alles nicht, wenn man so jung ist. So junge Menschen können sich ziemlich schnell einen Job besorgen. Junge und tüchtige Menschen können eine Schule besuchen, eine Ausbildung machen und sich dann eine Stelle suchen. Sie würden also eigentlich gar nicht auf der Strasse leben. Oder sie können sich einarbeiten lassen und dann als Hilfskraft irgendwo einspringen. Wie kann ein junger Mensch in diesem Land schon so verzweifelt sein? Wie geht das? Ich verstehe das nicht und werde es wohl auch nie so richtig verstehen.

Vor kurzem habe ich sie wieder gesehen. Kurz vor Mitternacht am Bahnhof. In einen Ladeneingang gepresst und total verloren. Sie hielt einen Becher in der Hand, welchen sie gierig ausleckte. Wohl etwas, das jemand weggeworfen hatte.
Da hat sie mir leid getan. Und ich hatte ein schlechtes Gewissen.
Wenn ich sie wieder sehe, lade ich sie zum Essen ein.
Vielleich kann sie mir erklären, was ich nicht verstehe.

3 Kommentare:

  1. Liebste Inka

    Mir ist etwas schreckliches passiert. Ich wollte deinen Kommentar vergrössern, um ihn besser lesen zu können und habe ihn versehentlich gelöscht. Kann man den wiederherstellen? Der kann doch nicht verschwunden sein...

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    1. Schade, ich hatte versucht, mich ernsthaft mit Deinem Beitrag auseinanderzusetzen. Aber egal, meine Meinung ist auch völlig unerheblich.
      In meinem Blog muss ich es ausdrücklich bestätigen, dass ich einen Kommentar löschen will. Versehentlich lassen sich die Kommentare nicht löschen. Du hast wohl die Sicherheitseinstellunen ausgeschaltet.
      Liebe Grüße
      Inka

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    2. Liebe Inka
      Jetzt fühle ich mich noch schlechter... Und nein, genau deine Meinung wäre mir wichtig gewesen! Wo kann man das einstellen? Das habe ich gerade gesucht aber nirgends gefunden.

      Liebe Grüsse
      Eponine

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